Photographie

Boris Becker

Staged Confusion

1990–2013

DAS SPEKTAKULÄR UNSPEKTAKULÄRE IM WERK VON BORIS BECKER

Am Donnerstag, den 27. Februar 1969 gegen 16 Uhr spazierte der französische Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec (1936–1982) die rue Vilin im 20. Arrondissement, einem Arbeiterviertel in Paris, entlang und machte sich Notizen über die Dinge, die er dort beobachtete. Er beschrieb die Fassaden jedes einzelnen der zahlreichen Häuser, die die Straße säumen, und notierte die Schilder, welche die Art der Geschäfte, die dort untergebracht waren, ankündigen: Nr. 7 ein Beerdigungsinstitut, Nr. 9 „Restaurant-Bar Marcel“, Nr. 45 das ehemalige „Hotel du Mont-Blanc“, jetzt ein einfaches Appartement-Haus. Perec ließ kein Haus unbemerkt, kein Schild ungelesen. Mehr als ein Jahr später, am 25. Juni 1970 – zufälligerweise ebenfalls ein Donnerstag und ebenfalls gegen 16 Uhr – vollzog er seinen Weg noch einmal und notierte alle Änderungen, die seit seinem letzten Besuch in dieser Straße stattgefunden hatten. Einige der Geschäfte, die er auf seinem ersten Spaziergang entdeckt hatte, waren inzwischen geschlossen worden und hinterließen eine Lücke; andere haben einfach den Besitzer gewechselt. Eine Reihe von Häusern war zugemauert worden, andere abgerissen. Bei vier weiteren Gelegenheiten über die nächsten fünf Jahre kehrte Perec in die rue Vilin zurück und machte Notizen über die Änderungen des physikalischen Charakters der Straße.

Alles schön und gut. Aber warum sollte jemand sich die Mühe machen, so etwas Banales zu unternehmen? Worum geht es dabei? An der rue Vilin ist nichts Spektakuläres oder Spezielles – außer vielleicht der Tatsache, dass Perec hier geboren wurde und aufwuchs. In der Haus-Nr. 24 hatten seine Eltern ein Friseurgeschäft – bis der Zweiten Weltkrieg und die Okkupation Frankreichs durch die Nationalsozialisten Perec zu Vollwaise machten. Der Spaziergang durch seine alte Straße war also auf der einen Seite eine Reise in die Vergangenheit – seine eigene, höchst persönliche Vergangenheit – vielleicht in der Hoffnung, diese zu überwinden, und auf der anderen Seite eine intensive, philosophische Auseinandersetzung mit dem Familiären, dem Alltäglichen, dem Unspektakulären, um den eigentlichen Sinn dieser zu erforschen, d.h. zu verstehen.

Wie Georges Perec ist auch Boris Becker an dem interessiert, was der französische Schriftsteller „L’infra-ordinaire“ nannte. Mit dem Begriff beschrieb Perec den Schritt weg vom Spektakulären – welches nach einer gewissen Zeit ohnehin nur langweilig wird – in dem Bestreben, die Schönheit und Faszination der alltäglichen Dinge und Erfahrungen wiederzuentdecken. Was Becker interessiert, ist, um es in den Worten Perecs zu beschreiben, nicht so sehr das Exotische, d.h. das Andere, sondern vielmehr das „Endotische“, das Innewohnende. Es handelt sich also um eine Anthropologie der eigenen Kultur und somit des eigenen Selbst.

Staged Confusion
Hochhausruine 1153, 1994
Staged Confusion
Baugerüst, 1990
Staged Confusion
Vorgarten, 1991
Staged Confusion
Opernhaus Köln, 2013
Staged Confusion
Zeebrugge, 2003
Staged Confusion
Rzeszów, 1196, 1994
Staged Confusion
Krakau, 1202, 1994
Staged Confusion
Wohnhaus 1062, Preetz, 1993
Staged Confusion
Hochstand 1058, Fischkroog, 1993
Lieu: Europe

Text: Gérard A. Goodrow, L’infra-ordinaire, 2016


Publié: Janvier 2019
Catégorie: Photographie

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